Die kleine Theatergemeinde, die sich in zufälliger und bunter Zusammensetzung am Sonntagnachmittag (2. Juni 2013) in der Braunschweiger Katharinenkirche eingefunden hatte, ging mit etwas über 30 Personen in der gotischen Hallenkirche beinahe verloren. Am Schluss der Nathan-Inszenierung des Ensembles Theatrum war das Publikum dennoch völlig begeistert.
Zu den Besonderheiten der Inszenierung zählt zweifellos die Verbindung von Text und Musik. Geschickt in den Handlungs- und Dialogverlauf eingefügte musikalische Elemente bewirken, dass die Figuren des Lessingschen Stücks an ihre jeweilige Kultur sinnenfällig zurückgebunden erscheinen, denn die Musiken stammen aus Judentum, Christentum und Islam. Nicht nur in virtueller Reflexion, sondern mit ihrem konkreten kulturellen Ausdruck stehen die Figuren einander gegenüber. Die drei Weltreligionen begegnen sich hier also nicht allein verbal und intellektuell, sondern auch emotional und sinnenfällig.
Die vier ausdrucksstarken und klaren Singstimmen und der Einsatz besonderer Musikinstrumente (Böhmische Wanderharfe; Persische Santur = traditionelles Saiteninstrument mit ca. 70 Saitern) geben der Inszenierung einen unverwechselbaren Charakter, der bei den Zuschauern noch lange nachwirkt. Nur am Rande, aber dennoch wichtig: Die akustische Problematik, vor die eine gotische Hallenkirche das Sprechen und Musizieren immer stellt, wird mit geeigneter und einwandfrei ausgesteuerter Tontechnik gut bewältigt. Bei voll besetztem Kirchenschiff wäre es iim hinteren Drittel dennoch etwas schwierig geworden. Wäre …
Die geschickte und nie langweilige Auswahl der verschiedenen z.T. kurzen Musiken aus Judentum, Christentum und Islam haben verschiedene Funktionen: streckenweise unterlegen sie den Dramentext mit Stimmungen und öffnen zusätzliche Assoziationsräume; daneben sind sie auch als Szeneneröffnung, manchmal auch wie eine „Blende“ oder -Unterbrechung eingefügt. Insgesamt lässt diese Verknüpfung von Musik und Text einen sensiblen Umgang mit dem Wortlaut des dramatischen Gedichtes erkennen.
Die – nicht durchgängige – Doppelbesetzung des Nathan mit einer männlichen und einer weiblichen Person, die gleichzeitig miteinander auftreten, ist ein gewagter Griff in die dramaturgische Trickkiste. Einige Male bieten beide Sprecher – gleichgewandet – einige Passagen auch gleichzeitig wie ein reduzierter Sprech-Chor dar, was allerdings mehr irritiert als dass es eine wirkliche Hörhilfe ist. Wenn sie jedoch – wie in der Ringparabel sehr eindrucksvoll gelungen – im Wechsel sprechen und sich die Nathan-Rolle gewissermaßen aufteilen, kommen durch die unterschiedlich gefärbten Subtexte sehr wertvolle Nuancen zum Vorschein. Dadurch wird eine reflexive Spannung in den Text hineingesprochen; eine oszillierende Nachdenklichkeit wird plastisch und einsehbar gemacht. Ein einzelner Sprecher könnte das in einem einzigen Sprechfluss ohne dramatische Verrenkung wohl kaum realisieren.
Die Aufführung beginnt mit einem unvermittelten, kontrollierten Clash: der persische Schauspieler Vahid Shahidifar im orientalischen Gewand lässt mit dem kurz gesungenen „Allahu akbar“ den muslimischen Gebetsruf im christlichen Gotteshaus erschallen. Die im weiteren Verlauf des Stücks eingestreuten arabischen Redeanteile – nur einmal ist es etwas zu lang geraten – haben zwar etwas Folkloristisches an sich, erzeugen aber Stimmungen und setzen beim tourismusgeschädigten Zuschauer durchaus brauchbare Assoziationen frei. Man fühlt sich dadurch schon in eine andere Kultur versetzt, ohne es wirklich zu sein – es lebe die Illusion …
An einer Stelle zitiert Nathan, ohne dass nichtkundige Zuschauer das verstehen können, die ersten Verse des alttestamentlichen Schöpfungsberichtes von 1. Mose 1,1-2 in hebräischer Sprache. Er steht dabei im Bühnenbild vor dem brennenden Dornbusch, dem Ort der Gottesoffenbarung. Ist es Absicht, dass gerade ein Exilstext, der auch in der heidnischen Fremde die Schöpfungstaten des Gottes Israels preisen und in ihnen eine mehr als nur provisorische Beheimatung erlebt? Ein tiefsinniger Kniff, diesen Text in das Jerusalem der Kreuzritter und „Muselmanen“ zu setzen. Wenn hierin ein Lösungsansatz versteckt sein sollte, der die interreligiösen Verwicklungen und Krisen mit einem Bezug auf das Elementare / Menschliche zu lösen versucht, wäre das durchaus im Sinne Lessings gedacht und auch eine ausdruckssake theologische Pointe. Allein der nicht hebräisch sprechende Zuschauer wird sie jedoch nicht bemerken …
Es ergibt sich eine im Bühnenbild wohltuend reduzierte, sowohl den Altar als auch die Kirchenfenster hinter sich völlig verbergende Inszenierung. Dennoch hat die Darbietung ein atmosphärisches Volumen, das den Zuschauer einzuhüllen vermag. Ein etwas merkwürdiges und wohl mit dieser Konzeption auch beabsichtigtes Gefühl begleitet diese Inszenierung wie ein mitlaufender Reflexionshintergrund: eine solche Aufführung ist im Kirchenraum mehr als nur ungewohnt, sie wirkt fremd. Wie in leiser, kaum störender Tinitus begleitet dieses Gefühl das Erlebnis. Man kann es ignorieren. Und tatsächlich: andernorts haben Pfarrer bzw. Kirchengemeinden eine Aufführung im Kirchenraum nicht gestattet, das Ensemble ist dann in Schulen oder Turnhallen „ausgewichen“. Man sollte diese Reaktionen nicht einfach überspringen oder als engstirnig abtun, denn sie weisen auf ein ernst zu nehmendes und nicht leicht zu beantwortendes Problem hin: Können Religionen einander von innen heraus und in ihrem Kern nah sein? Wer seines Glaubens froh und gewiss ist, wird zwar keine Berührungsängste haben, aber diese Frage dennoch nicht so schnell bejahen wollen, wie sie gestellt ist. Dass die Hohenerxlebener dieser Frage eine annehmbare Form gegeben haben, ist sicher ein Verdienst.
Mit dem noch nicht kitschigen aber doch als große und gerade noch erträgliche Harmonie inszenierten Schluss, in dem verschiedener Chorusse aus den drei Religionen kanonhaft ineinanderklingen, ist das inhaltliche Ziel und die Botschaft dieser Inszenierung erreicht. Dieser Schluss bleibt aber hinter den sachlich begründeten Spannungen, hinter den durch Text und Musik gegenwärtig gemachten interreligiösen Befremdlichkeiten zurück, die in dieser Inszenierung zwar nicht besonders krass herausgestrichen werden aber dennoch gut erkennbar in ihr enthalten sind.
Insgesamt: eine sehenswerte Inszenierung, die zum Nachdenken und Weiterdenken anregt.